IMI-Standpunkt 2025/022
Europas Weißbuch: Mit Volldampf auf Kriegskurs
Wo bleibt der linke Widerstand?
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 26. März 2025
Wenn es wahr ist, dass die Wahl Donald Trumps und die Verhandlungen um einen Waffenstillstand in der Ukraine für Europa den größten Epochenbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen, dann wäre es eigentlich notwendig, wohl überlegt und gut diskutiert Ursachen zu analysieren, realistische Optionen auszuloten und darauf basierend eine strategische Neuausrichtung auf den Weg zu bringen. Die führenden Politiker*innen in Deutschland und Europa machen aber das Gegenteil. In Windeseile werden Schuldenprogramme in zuvor nie dagewesenem Maßstab für die Aufrüstung aufgelegt. Am 19. März 2025 hat dann die noch relativ junge EU-Kommission (während der laufenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine) ein „Weißbuch“ verabschiedet, das von der aktuell verbreiteten Panik um einen vermeintlich bevorstehenden Angriff Russlands auf EU-Staaten geprägt ist. Hysterie und Opportunismus ziehen sich durch den gesamten Text. Bereits auf sprachlicher Ebene wirkt er eher wie ein eilig herunter geschriebener und schlecht übersetzter Entwurf einer Tischvorlage der Rüstungslobby: Keine abwägenden oder diplomatischen Formulierung, keine Rücksichtnahme auf divergierende Interessen innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten, kein Raum für Ambivalenzen.
Weißbuch: Rüstungswahn statt Strategie
Auch jenseits stilistischer Fragen fällt es schwer, das Weißbuch als Strategiepapier ernst zu nehmen. Ein Strategiepapier sollte eigentlich verschiedene Szenarien in den Blick nehmen, eine realistische Einschätzung künftiger Entwicklungen und eigener Fähigkeiten enthalten und Ziele definieren. Davon kann aber im vorgelegten Weißbuch keine Rede sein: Es kennt nur ein Ziel: die hemmungslose und forcierte Aufrüstung auf allen Ebenen und mit (fast) allen Mitteln mit dem Ziel, bis 2030 auch ohne die USA einen großen Landkrieg führen zu können.
In dem Dokument erscheint Europa von allen Seiten und auch aus dem Inneren bedroht, die eigene „regelbasierte Ordnung“ im Niedergang begriffen. Die größte Bedrohung ist natürlich Russland, aber auch China wird mehrfach genannt sowie der zunehmende „strategische Wettbewerb in unserer weiteren Nachbarschaft, von der Arktis bis zum Baltikum, vom Mittleren Osten bis nach Nordafrika“. Hinzu kommen Bedrohungen durch technologischen Wandel, Migration und den Klimawandel, an anderer Stelle Terrorismus, Extremismus, Organisierte Kriminalität und Cyber-Kriminelle. Auf diese sehr kursorische Bedrohungslage kennt das Dokument nur eine Antwort: „Der Moment ist gekommen, in dem sich Europa wiederbewaffnen muss.“ Mehrfach wird in dem Dokument von der „realen Perspektive eine vollumfänglichen Krieges“ (the real prospect of full-scale war) gesprochen. Überhaupt taucht die Silbe „scale“ in den 22 Seiten des Dokuments 24 Mal auf. Es wird ernst gemacht, im großen Maßstab gedacht – ob es um Waffensysteme, Truppenverlegungen oder auch die Skaleneffekte geht, die man durch die Massenproduktion von Rüstungsgütern zu realisieren hofft: Panzer, Drohnen und Munition sollen endlich am laufenden Band produziert werden
Alternativlos: Die Ukraine muss weiterkämpfen!
Ganz klar wird im Weißbuch, dass unabhängig von den Verhandlungen um einen Waffenstillstand in der Ukraine der Krieg dort für Europa nicht vorbei sein wird. „Die Zukunft der Ukraine ist entscheidend für die Zukunft Europas als Ganzes“ … „Die Ukraine steht gegenwärtig an der Frontlinie der europäischen Verteidigung, verteidigt sich gegen einen Angriffskrieg durch die größte Bedrohung unserer gemeinsamen Sicherheit“ … „Die Zukunft Europas entscheidet sich durch den Kampf in der Ukraine“ … „Die Ukraine ist die zentrale Arena, in der sich die neue, internationale Ordnung entscheiden wird“. Entsprechend soll die Hochrüstung Europas auch wesentlich dem Ziel dienen, „die militärische Unterstützung der Ukraine aufrechtzuerhalten und auszubauen“.
Wohlgemerkt: Dieses Dokument erschien, während die USA, Russland und die Ukraine über einen Waffenstillstand verhandelten. Die Möglichkeit, dass es dort zu einem Friedensschluss, gar zu einem dauerhaften Frieden und Abrüstungsbemühungen kommen könnte, wird in dem Dokument jedoch gar nicht in Betracht gezogen. Fast drängt sich der Eindruck auf, die hastige Veröffentlichung dieses Aufrüstungsprogramms sei als diplomatisches Säbelrasseln gemeint, um der bislang nicht beteiligten EU (bzw. den europäischen Führungsmächten und ihren baltischen Kettenhunden) doch noch einen Platz am Verhandlungstisch zu garantieren mit der Drohung: ‚ohne uns wird es keinen Frieden geben‘ bzw. ‚ein Frieden, der ohne uns ausgehandelt wird, werden wir nicht akzeptieren‘. Eine solche Initiative wäre zwar moralisch fragwürdig, im unmoralischen Spiel der Mächte um Einfluss jedoch nachvollziehbar. Sie jedoch in Form eines langfristigen Strategiedokuments zu ergreifen, welches die Hochrüstung der EU auf Jahre und quasi unumkehrbar festschreibt, birgt nicht nur die Gefahr, dass der „vollumfängliche Krieg“ zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Dies wird auch dazu beitragen, dass weltweit Staaten in den Rüstungswettlauf einsteigen – mit allen Folgen für bestehende Formen der Rüstungskontrolle und der Regulierung neuer Waffensysteme.
Denn obwohl das Weißbuch primär eine existenzielle Gefahr für Europa, eine „direkte“ Bedrohung „unserer Art zu Leben“ unterstellt, erhebt es zugleich den Anspruch, die internationale Ordnung zu „formen“ – „sowohl in unserer Region, als auch darüber hinaus“. Auch der bereits angesprochene „strategische Wettbewerb“ von der Aktis bis in den Mittleren Osten und die Verweise auf Taiwan bringen letztlich zum Ausdruck, dass „Europa“ hier künftig wieder mehr mitbestimmen will und den Königsweg auch hierfür in der massiven Aufrüstung sieht. Das muss auch von den anderen Teilnehmenden im „strategischen Wettbewerb“ als Ansage verstanden werden, dass der Kampf um Einfluss künftig noch mehr und schneller auf der militärischen Ebene ausgefochten wird.
Fehlender Realismus und Tech-Fantasien
Und hier sind wir beim fehlenden Realismus, der in einer außen- und militärpolitischen Strategie gefährlich, geradezu fatal sein kann. Dieser fehlende Realismus kommt u.a. in einer Leerstelle des Dokuments zum Ausdruck: der Mobilisierung von Menschen für den Krieg, die Mobilisierung der massenweisen Bereitschaft, für „Europa“ und seine Geltungsansprüche zu sterben. Zugegeben, das Weißbuch hat primär die Rüstungspolitik zum Gegenstand. Trotzdem ist die Ausklammerung der Frage, wer diese Waffensysteme in welchen Kriegen bedienen und bei deren Bedienung sterben soll, eklatant. Es fehlt eine realistische Einschätzung dessen, wie viel militärisch fundierte Macht ein Europa weltweit projizieren kann, das letztlich aus sehr unterschiedlichen Nationalstaaten besteht, die fast alle bereits jetzt Rekrutierungsprobleme haben, die Demokratien würdig sind.
Übertüncht wird diese Leerstelle mit der das gesamt Dokument durchziehenden Hoffnung auf überlegene Technologie. Künstliche Intelligenz, autonome Systeme und Quantencomputing werden wiederholt angesprochen und sollen einen Schwerpunkt in der europäischen Hochrüstung spielen. Von ihrer Regulierung – wie insgesamt von Regulierung – ist hingegen keine Rede. Der Weg, wie Europa bei diesen Technologien und durch diese Technologien „Überlegenheit“ herstellen kann, entspricht in seiner Floskelhaftigkeit wiederum der lange gehegten Wunschliste der Rüstungsindustrie und der mit dieser immer enger verwobenen Tech-Industrie: Mehr Geld, mehr Geld für Rüstungsforschung und Dual Use, mehr Unterstützung für Startups und Risikokapital, Deregulierung und schnellere Beschaffung sowie die weitere technologische Hochrüstung auch der Grenzen und der Inneren Sicherheit. Diese Bedingungen der Deregulierung und beschleunigten Aufrüstung werden die Weiterentwicklung jener neuen Technologien prägen und so dazu beitragen, dass sie sich tatsächlich als ernsthaften Bedrohung der Menschen und ihrer Rechte entfalten.
Es sind letztlich industrielle Interessen, die im Weißbuch an die Stelle einer Strategie treten. Dass sie sich hier (und aktuell auch anderswo) in Reinform artikulieren können, ist Ausdruck einer Aufrüstungs-Hysterie, wie sie es in Europa tatsächlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Es besteht die reale Gefahr, dass diese Interessen und die als Katalysator verbreitete Hysterie vermengt mit dem Geltungsanspruch eines neuen „Europas“ (unter deutscher Führung) in einen Dritten Weltkrieg münden. Jenseits dieser Gefahr, die im Weißbuch als „reale Perspektive eine vollumfänglichen Krieges“ umschrieben wird, ist völlig klar, dass der mit dem Weißbuch ausgerufene neue Rüstungswettlauf und ein lange anhaltender Krieg in der Ukraine die sich bereits entfaltende Klimakatastrophe weiter verschärfen wird. Auch diese wird im Dokument angesprochen, aber eben ausschließlich innerhalb jener Melange von Bedrohungen, welche die massive Aufrüstung der EU legitimieren soll: Hochrüstung gegen den Klimawandel – so viel zum Thema fehlender Realismus.
Wo bleibt der linke Widerstand?
Besonders gefährlich ist die Lage, weil es europaweit sehr wenig Widerstand gegen die Aufrüstung gibt und wenn, dann oft aus den falschen Motiven von der falschen Seite. In der veröffentlichten Meinung dominieren die Hardliner – oft jene „Expert*innen“, die bereits in den vergangenen Jahren bei jeder Gelegenheit darauf drängten, dass Deutschland bzw. Europa international „mehr Verantwortung“ übernehmen sollten. Jene Personen, welche über Jahre die gescheiterten militärischen Abenteuer in Afghanistan und der Sahel-Region propagandistisch begleitet und Europa in jene strategische Sackgasse geführt haben, aus dem es sich nun mit einem irrationalen und zerstörerischen Aufrüstungs-Plan befreien will. Kritische Stimmen finden nur vereinzelt Gehör. Gerade auch die antifaschistische und parlamentarische Linke ignoriert den Aufrüstungskurs – oder stimmt ihm sogar zu, wie etwa die Linke in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern bei der Abstimmung über die Grundgesetzänderungen im Bundesrat.
Die linke Zustimmung und das linke Schweigen sind besonders in Deutschland katastrophal. Sie übersehen (oder goutieren klammheimlich), dass Europa tatsächlich dabei ist, die „Nachkriegs-Ordnung“ abzustreifen. Dazu gehört auch die Entsorgung der deutschen Weltkriegs-Geschichte. Eine deutsche Kommissionspräsidentin – im Amt gehalten mit der Zustimmung italienischer Faschisten – legt ein historisches Programm zur schuldenfinanzierten Aufrüstung auf. Deutschland ebnet dieser den Weg, indem es per Verfassung ausschließlich Rüstungsausgaben (im weiteren Sinne) unbegrenzt von der Schuldenbremse ausnimmt. In deutschen Leitmedien und von hochrangigen Regierungsvertretern wird von einem „Krieg gegen Russland“ gesprochen und geträumt. In Litauen wird eine Brigade der Bundeswehr stationiert, deutsche Waffensysteme mit ukrainischer Besatzung sind in Kursk vorgedrungen. Es ist kein Wunder, dass zunehmend Forderungen nach einer atomaren Bewaffnung Deutschlands und einer Kündigung des 2+4-Vertrages („Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“) diskutiert werden. Diese „abschließende“ Regelung beinhalteten jene Einschränkungen der Aufrüstung und Souveränität, die Deutschland als Folge seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg auferlegt wurden: U.a. die endgültige Anerkennung der deutschen Außengrenzen, der Verzicht auf Atomwaffen, das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und die Begrenzung der Streitkräfte auf „370.000 Mann“.
Dass die parlamentarische und antifaschistische Linke vor diesem Hintergrund nicht massenweise auf die Straße geht und sich der deutsch forcierten Hochrüstung mit aller Kraft widersetzt, könnte sich als Versagen von historischer Dimension entpuppen.